Wie es wirklich ist, von dem zu leben, was man liebt // Interview mit Julia vom actionhouse Heidelberg
Mit zwei Kindern aus dem sicheren Beamtenverhältnis als Lehrerin heraus und mit allem, was sie kann und liebt, ein Business aufbauen, ohne sich dabei selbst zu verlieren. Ich ziehe meinen Hut vor Julia, die heute für euch meine #Jobliebelei-Fragen beantwortet und genau das getan hat. Sie ist die Gründerin der Heidelberger Kreativinitiative actionhouse e.V. und betreibt den Stadtfarm Blog. Ich habe selbst schon ein paar Workshops von ihr besucht und schätze vor allem ihre entspannt-quirlige Art und ihre hundertprozentige Authentizität. Los geht´s!
Hallo Julia, erzähl meinen Lesern doch bitte zuerst Mal ein klein wenig über dich: wer bist du? Wofür schlägt dein Herz? Und womit verdienst du deinen Lebensunterhalt?
Hallo Nadine, ich bin Julia, gebürtige Heidelbergerin, Ende 30 aber im Herzen erst 12. Ich bin zweifache Mama und habe einen zerstreuten Ami-Ehemann. Mein Geld verdiene ich mit Medienarbeiten und Workshops zu Heilkräutern und Naturkosmetik.
Mein Herz schlägt höher, wenn es um Natur, gutes Design sowie darum geht, andere Menschen zu inspirieren und zu unterstützen. Ich bin zwar sehr, sehr gerne alleine unterwegs, aber Community ist etwas, worin ich aufblühe.
Ich liebe Pflanzen, Heilkunst und Handwerk. Vor Jahren habe ich deshalb eine Ausbildung als Pharmazeutisch Technische Assistentin gemacht, da ich glaubte, dieser Beruf könne diese Aspekte verbinden. Tatsächlich fand ich mich aber in der Apotheke hinter der Kasse wieder und verkaufte Viagra, Krebsmittel und mischte allenfalls mal eine Crème gegen Hautpilz.
Dann beschloss ich Lehramt zu studieren. Eine tolle Studienzeit, in der ich viel in der Welt – vor allem in den USA – herumreiste. Ich war zum Teil geschockt darüber, wieviel die Amis schuften, aber ich war auch sehr inspiriert von der “Geht-nicht?-Gibt’s-nicht-Mentalität” gepaart mit unerschütterlichem Optimismus und Disziplin.
In Los Angeles lernte ich meinen Mann kennen, der mit Film und Theater arbeitete. Die Faszination mit Medien begann, und zurück in Heidelberg belegte ich an der PH das Fach Medienpädagogik und begann meine Hausarbeiten in Form von Videos oder Dokumentationen abzugeben – was ganz gut bei den Profs ankam.
Außerdem gründeten wir eine Jugendarbeit, die sich nach einer Weile in eine Kreativinitiative actionhouse e.V. weiterentwickelte. Zunächst einmal ging es dabei um Spaßprojekte, Nähkurse und Workshops zur Filmproduktion.
Während des Studiums heiratete ich meinen Amerikaner und nach zwei Jahren bekamen wir ein Kind. Schwerbehindert und angeblich lebensunfähig. Eine herausfordernde Zeit begann. Ich arbeitete trotzdem erstmal weiter in der Apotheke, schloss nebenbei meine zwei Staatsexamen ab, bekam noch ein zweites Kind und ging in Elternpause.
Seit wann machst du das, was du liebst, beruflich und was war der ausschlaggebende Grund dafür, diesen Schritt wirklich zu gehen?
In der Elternpause hatte ich wieder mehr Zeit für Film und Design. Ich nahm eine freie Dozententätigkeit für Medienpädagogik an und filmte Hochzeiten für Freunde. Auf einer solchen Hochzeit sprach mich ein Freund an, ob ich nicht Lust hätte, für seine Kirche das Design zu übernehmen und ab und an mal ein paar Clips zu drehen. Das war eigentlich der Startschuss.
Ich überlegte (nur kurz) und sagte dann ja. Sehr bald kamen Aufträge von internationalen Firmen dazu. Die kamen übrigens ganz von selbst. Bis zum heutigen Tag habe ich noch keine Akquise betrieben. Word-of-mouth funktioniert tatsächlich.
Weiterhin gab ich Kurse und Workshops im actionhouse. Aber 2014 war die Elternzeit rum und ich ging wieder an die Schule.
Und dann kam 2015. Ein Jahr in dem mein Sohn fünf (!) akute OPs über sich ergehen lassen musste. Im November waren die Ärzte kurz davor, ihm ein Bein zu amputieren. Bis kurz vor Weihnachten lebten wir quasi in der Klinik. Was das mit einem Elternherz tut, muss ich hier nicht näher erläutern.
Aber als mich das Regierungspräsidium dann noch in die Grundschule steckte und ich an mehreren 1. Klassen den lauten Sportunterricht vertreten musste, brannten bei mir die Kabel durch: Tinnitus. Panikattacken. Ich konnte meine eigenen Kinder nicht mehr hören. Ich fand mich im Klassenzimmer neben mir und fragte mich: was mach ich hier eigentlich?
Die Frage hämmerte Woche um Woche lauter und stärker in meinen Gedanken als der elende Tinnitus im Ohr und im Frühling 2016 erlaubte ich mir das erste mal die realistische Frage: Was, wenn ich aufhöre? Was, wenn ich stattdessen freie Film- und Grafikjobs annehme?
Hattest du anfangs in deinem persönlichen Umfeld mit Vorurteilen oder Gegenwind zu kämpfen?
Und wie steht dein Umfeld jetzt zu deinem Job?
Ich glaube, die meisten Vorurteile und der größte Gegenwind kamen aus meinem eigenen Kopf. Was ist WENN ich das sichere Arbeitsfeld Schule hinter mir lasse? Selbst versichern? Selbst Jobs suchen? Was, wenn Aufträge ausbleiben?
Die Ärztin, die mich wegen des Tinnitus behandelte, warnte mich vor dem Ausstieg. Ich müsste mir im Klaren darüber sein, dass ich womöglich nie mehr in den Beamtendienst einsteigen können würde. Und eine sehr enge liebe Freundin, zögerte auch: Schule ist halt echt sicher, ne? Alles andere könnte herausfordernd werden.
Als ich meinem Mann von den Absichten berichtete, sagte er nur: “Das macht doch nur Sinn. Sage ich dir doch schon seit Jahren. Mach dich selbstständig!” Ich erlaubte mir zaghaft, dem Ausblick eine Chance zu geben.
Es war ein Prozess, klar, aber die Entscheidung war sehr präsent. Vom unverbindlichen: “Ich könnte vielleicht irgendwann mal…” zum: “Ich mach’ das wirklich!!” zu wechseln war sehr bewusst. Und am selben Tag dieser Entscheidung lagen abends noch drei Anfragen zu fetten Film- und Medienjobs in der Inbox, als hätte meine Entscheidung Schwingungen freigesetzt!
Dazu kam dann die glorreiche Idee, unsere Stadtfarm für Partys zu vermieten, welches ein super zweites Standbein geworden ist, wenn es weniger Aufträge gibt. Heute freuen sich alle, sogar meine sehr kritische Mutter, über meinen Lebensstil, die Medien und die Farm.
Was sind für dich persönlich die negativen Seiten an der Selbstständigkeit?
Mir fallen keine explizit negativen Seiten ein. Ich kann an dieser Stelle nur auflisten, was mich nervt: Steuern und das Dilemma, dass ich, wenn ich kreativ arbeite und Momentum spüre, zehntausend Mal unterbrochen werde, um einen Witz anzuhören oder ein Tigerbild auszudrucken. #workathomemom
Ich glaube, ich habe etwas ADHS. Jedenfalls kann ich digital nur arbeiten, wenn ich im Flow bin ohne Unterbrechung. Ich wünschte, das wäre anders.
Und jetzt aber zurück zum Schönen: was ist das tollste daran, sein eigener Chef zu sein?
Für mich ganz klar die Freiheit. Freie Zeiteinteilung, tolle Kunden, Wertschätzende Anfragen und natürlich auch die Abwechslung und besseres Geld. Dieses Jahr habe ich bewusst Anfang Mai den letzten Auftrag angenommen, um mich auf Familie, Workshops und die Farm, auf der ich gerade an einem Tiny House bastle, zu konzentrieren. Im Oktober geht es dann weiter mit Kundenaufträgen. Aber die fünfmonatige Arbeitspause hat mir sehr gut getan. So etwas wäre in einer Festanstellung gar nicht denkbar.
Hand auf´s Herz: sich selbst zu motivieren, kann einem schon mal schwer fallen. Wie organisierst du deinen Tagesablauf?
Ich bin eher übermotiviert und muss mich bremsen. Die Woche beginne ich mit einem Braindump. Der wird dann nach der Getting-Things-Done-Methode, abgearbeitet. Ich arbeite wie folgt: Montags den Shit abbauen: Rechnungen zahlen und stellen, Emails, Telefonate und Termine organisieren. Das alles und auch den Kram, den zwei Schulkinder so mit sich bringen, würde ich übrigens ohne Google Keep nicht bewältigen können.
Montag und Dienstag hat mein Mann frei und wir verbringen die Zeit auf unserer Farm. Den Rest der Woche arbeite ich mit Filmen oder blogge für den Stadtfarm Blog in meinem Studio in der Stadt (actionhouse). Freitags bin ich während der Coworking Zeit im actionhouse mit bunten Projekten beschäftigt: Zum Beispiel erarbeite ich gerade eine ausgedehnte Webinar-Reihe zum Thema Naturkosmetik und Phytotherapie. Daneben habe ich eine kleine Naturkosmetik Produktlinie, die ich an einige kleine Geschäfte abgebe und die man freitags auch in unserem Frohmarkt Regal finden kann.
Wer Kids hat, hat dann automatisch Struktur. Nach 14:30 Uhr ist hier Trubel angesagt. Wenn Kundenaufträge drängen, dann arbeite ich gerne noch mal ab 20:30 Uhr für ein, zwei weitere Stündchen. Oder drei oder vier. Ich bin projektorientierter Workaholic und muss mir meist einen Wecker (oder den Gatten) stellen, um aufzuhören.
Welche Frage hättest du gerne gestellt, bevor du den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt hast? Und wie lautet deine Antwort darauf?
Alles selbermachen oder delegieren? Heute sage ich dazu: Steuerberater und Reinigungshilfe zahlen sich absolut aus. Ansonsten bin ich bekennender Kontrolletti und mache meinen Kram lieber selbst.
Und zuguterletzt: welchen Rat hättest du (oder hast du) gerne bekommen, bevor du dein Glück selbst in die Hand genommen hast?
Trau dich. Leg los. Sei diszipliniert, denn von nichts kommt nichts. Aber harte Arbeit zahlt sich aus. Immer.
Außerdem: Prioritäten setzen. Manchmal muss die Kraft in dein Business und nicht in den Haushalt oder das perfekte Make-Up fließen. Dann schimmelt halt mal die Spülmaschine und das ist nicht das Ende des Universums.
Und: umgib dich mit positiven Leuten. Wenn du Frust hast und nicht vorwärtskommst, geh raus ins Grüne. Da wirst du sehen, dass Wachstum genau wie Pausen in der Natur der Dinge liegt. Was du säst, wird wachsen, dich ernähren und dich versorgen. Auch ein Naturgesetz!
Liebe Julia, vielen Dank, dass du dir die Zeit für meine Fragen genommen hast. Und vor allem vielen Dank für die verschimmelte Spülmaschine. Ich glaube, das schlechte Gewissen, nicht auf allen Hochzeiten gleich schön tanzen zu können, kennen viele. Bei mir musste der Haushalt auch etliche Male und teilweise Monate hinten anstehen, als ich diesen Blog hier neben meinem normalen Freelancer Alltag zu meinem Hauptjob ausgebaut habe. Und ja, tatsächlich ist das nicht das Ende des Universums und später kommen auch wieder andere Zeiten.
Habt es schön!
Nadine
Fotos: Julia Sentman
Falls ihr euch fragt, was es mit dieser Serie auf sich hat: hier könnt ihr nachlesen, um was es bei der #Jobliebelei geht.
P.S.: Falls du denkst, dass deine Geschichte zu einem Job, den du liebst, auch Mut machen könnte, meld dich bei mir! Ich freu mich auf eine kurze Mail mit dem Betreff Jobliebelei an nadine@dreierlei-liebelei.de mit einer Beschreibung, was du genau machst.
Evelyn
Wahnsinn. Julia ist so krass inspirierend. Man spürt ihre Power durch die Zeilen.
Jetzt muss ich direkt googlen wann Workshops bei ihr sind. Und was Google keep ist 😉
Danke für dieses Mega motivierende Interview!
Alles liebe Evelyn
Nadine
Oh wow, Julia ist echt wahnsinnig inspirierend. Ich glaub, ich muss demnächst mal im actionhouse vorbeischauen.
Danke dir Nadine, die Jobliebelei ist eine richtig tolle Reihe!
Judith
Danke Nadine für diese Serie! Die Geschichte von Julia ist wahnsinnig inspirierend – ich selbst nehme viel zu oft die Kinder als Ausrede und schäme mich jetzt ein bisschen.
Das letzte Foto ist übrigens erfrischend genial 🙂
Heike Tschänsch
Danke für das tolle Interview.
Julia ist eine tolle Frau und macht bestimmt vielen Frauen Mut, ihren eigenen Weg zu gehen.
Liebe Grüße von Heike
Marion Rosenfelder
Sehr berührende Geschichte ,aber da sehe ich mal wieder, wir Frauen sind Gewinner .
Sind mutig und voller Liebe ..
Lieber Gruß marion
Maxi
Julia, du bist unheimlich inspirirend und eine tolle Persönlichkeit.
Sehr beeindruckend was du rockst, das macht auf jeden Fall Mut und gibt unendlich viel Power schon beim lesen.
Vielen Dank für diese #jobliebelei
Grüße Maxi